Wer als Kind in Armut aufwächst, hat schlechtere Startchancen ins Leben. Viele kämpfen bis ins Berufsleben mit diesem Nachteil. Steven erinnert sich für uns an die größten Hürden auf seinem Bildungsweg – und wie er sie überwand. Zweiter und letzter Teil einer sehr persönlichen Biografie. Hier geht's zum ersten Teil.
Da stand ich, 17 Jahre alt, mitten in Paris. Was machte ich hier? Mein Plan war, an einem französischen Gymnasium die “Première”-Klasse mit einer literarischen Ausrichtung zu absolvieren, die der zwölften Klasse in Deutschland entsprach. Ein Rückfahrticket in mein altes Leben hatte ich ohnehin nicht, das konnte ich mir nicht leisten.
Für meine Mutter war es sicherlich schwer, mich gehen zu lassen. Aber ich glaube, sie hatte im Gefühl, dass dieser Weg mir das geben könnte, was mir in Berlin fehlte: eine Perspektive, um zu wachsen. Und sie wusste, dass ich von der Pike auf gelernt hatte zu überleben. Trotzdem fiel es ihr natürlich nicht leicht, einer wildfremden Person in Frankreich die Erziehungsberechtigung für das eigene Kind zu übertragen. Schließlich gab es damals weder Smartphones noch Billigflüge und SMS oder Telefonate ins Ausland waren sehr teuer.
Bald nach meiner Ankunft fand ich über eine Anzeige ein Einstellungszentrum einer Schnellrestaurantkette, bewarb mich und schaffte den Einstellungstest. Mein Französisch war noch nicht gut genug, um an der Kasse mit Kundenkontakt zu arbeiten, selbst für die Arbeit in der Küche fehlten mir noch zu viele Vokabeln. Also waren meine häufigsten Aufgaben am Anfang das Entladen der LKWs und das Befüllen der Großraumkühlschränke. Meine Schichten lagen häufig am frühen Morgen vor der Schule und an den Wochenenden.
Meine erste Meldeadresse war in einem sehr zentralen Viertel. Das war wichtig für die Schule. In Frankreich ist die soziale Durchlässigkeit – nicht nur im Schulsystem – eng daran gebunden, wo man wohnt. Ich war auf einem der besten Gymnasien von Paris gelandet, wie ich hörte. Tatsächlich wohnte ich aber in einem Vorort, in der Banlieue. Dort teilte ich mir mit vier Menschen einen wackeligen Bungalow ohne Zimmertüren und mit durchnässten Wänden. Ich sah es damals als Privileg an, überhaupt dort sein zu können. Dieses Leben war anstrengend, aber es fühlte sich wie ein Erfolg an.
Die RER-Züge, mit denen ich aus meinem Vorort zur Arbeit und in die Schule fuhr, waren immer sehr voll und nicht selten stand der gesamte Pendelverkehr morgens still, weil sich jemand vor einen Zug geschmissen hatte. Wenn das passierte, wurde mir ganz mulmig, weil ich erschrocken war, wie häufig das vorkam.
Fürchtete das Elitegymnasium meinetwegen um seinen guten Ruf?
Wenn ich dadurch zu spät zur Schule kam, hatte das Konsequenzen: In den guten Pariser Gymnasien musste man immer erst zum stellvertretenden Schulleiter, der die Verspätung auf einem Zettel vermerkte, und durfte erst dann in die Klasse. Irgendwann waren meine Ausreden wohl nicht mehr kreativ genug, vielleicht hatte auch ein Mitschüler ausgeplaudert, dass ich in der Banlieue wohnte. Nachdem ich mein mündliches Abitur in Französisch bestanden hatte, legte mir die Leiterin meines Jahrgangs in einem Gespräch sehr nachdrücklich nahe, die Schule zu wechseln.
Meine Vermutung ist, dass sie um ihr Renommee fürchteten. An Schulen wie dieser bereiten sich Kinder auf eine elitäre, gut bezahlte Laufbahn über die Grandes Ecoles vor, konzentrieren sich aufs Lernen und haben gar keine Zeit, nebenbei zu arbeiten. Ohnehin hätten die wenigsten das nötig gehabt, so wie ich. Der gute Ruf war durch mich gefährdet.
Nicht durch meine bloße Anwesenheit, aber durch die Unberechenbarkeit, ob ich mit so einem unsicheren Hintergrund nach dem mündlichen auch das schriftliche Abitur in einer fremden Sprache schaffen würde. Für mich wäre das sicher eine Enttäuschung, aber kein Drama gewesen – für die Institution hätte es aber bedeutet, dass sie nicht mehr mit einer 100-Prozent-Absolventengarantie hätten werben können.
In dem Gespräch habe ich eigentlich nur zugehört und gar nicht erst versucht, die Schule davon zu überzeugen, dass ich bleiben darf. Ich wusste ja, dass sich meine finanzielle Situation nicht bessern würde. Weder könnte ich in die Innenstadt umziehen oder aufhören, neben der Schule zu arbeiten – noch könnte ich mir Nachhilfe leisten. Ich wechselte auf ein Wirtschaftsgymnasium in einem Randbezirk, wiederholte dort die zwölfte Klasse, weil meine Spezialisierung auf Literatur nicht kompatibel war mit der Ausrichtung der neuen Schule auf Wirtschaft, bekam aber sehr gute Noten.
Hast du den ersten Teil von Stevens Erinnerungen verpasst? Hier erzählt er von seinen ersten Erfahrungen mit Armut. An der Supermarktkasse, in der Schule und im Verhältnis zu seiner Mutter.
Meine soziale Einbettung war nicht im Paris der Akademiker, sondern vor allem bei den Kolleg*innen im Schnellrestaurant. Hier waren vor allem die, die wie ich weniger privilegiert waren und auf eine gute Ausbildung oder wenigstens ein auskömmliches Gehalt hinarbeiteten. Während auf meinem Gymnasium fast alle Schüler*innen und Lehrer*innen weiß waren, hatte ich im Schnellrestaurant eine schwarze Chefin und war als weißer Mann eher die Ausnahme.
Damals stellte ich mir zum ersten Mal die Frage: Woher kommt diese Trennung? Eine Kollegin, die ich damals dort kennenlernte, hat im Anschluss in London studiert, doziert und schließlich Entwicklungsarbeit in afrikanischen Ländern geleistet. Für sie war der Weg doppelt steinig: Als nichtweiße Frau stand sie vor zusätzlichen Herausforderungen.
Als ich 18 Jahre alt war, warf mich eine Nachricht von meiner Mutter aus der Bahn: Mein Vater hatte aufgehört, Unterhalt zu zahlen. Bisher hatte ihn mir meine Mutter jeden Monat überwiesen. Auf einmal reichte das Geld, das schon vorher vorne und hinten knapp war, nicht mehr für das teure Leben in Paris. Ich nahm meinen ersten Bankkredit über 2.000 Euro auf und hoffte, dass ich es schon irgendwie schaffen würde, mehr zu arbeiten.
Ein zweiter Job in einem sehr dubiosen Callcenter
Ich nahm einen zweiten, sehr dubiosen Job an, wie man ihn sich nur im Film vorstellen kann. In der Anzeige wurde nur nach deutschsprachigen Menschen gesucht, die am Telefon arbeiten wollten. Beim Vorstellungsgespräch wurde ich schon nach zwei Minuten gefragt, ob ich nicht sofort anfangen wolle. Ein erster Gehaltsscheck war auch schon ausgefüllt. Dann öffnete man mir eine Tür, die in ein Bücherregal integriert war, und ich stand in einem großen Raum, in dem mehrere Frauen vor Computerbildschirmen saßen und telefonierten.
Ihre und meine Aufgabe war es, Zahnärzten in Süddeutschland eine kostengünstige Entsorgung ihrer Arbeitschemikalien anzubieten. Später fand ich heraus, dass die Chemikalien in einem Nebenraum in Fässern gelagert wurden. Zum Service-Paket gehörte auch der diskrete Ankauf von Zahngold, das Patient*innen bei Eingriffen ohne ihr Wissen entnommen, praktisch gestohlen, wurde.
Das Geld half mir, auch wenn ich mich mit meiner Rolle in diesem Geschäftsmodell sehr unwohl fühlte. Das ging aber nur ein paar Wochen: Die Schule und die zwei Jobs wurden irgendwann so viel für mich, dass ich während einer Schicht im Callcenter am Telefon sitzend eingeschlafen sein muss. Der Geschäftsführer drückte mir einen letzten Gehaltsscheck in die Hand und schickte mich mit den Worten “Geh zuhause schlafen!” weg.
Die Erschöpfung und der lähmende Gedanke, die zwölfte Klasse zum zweiten Mal zu machen, trieben mich dazu, die Schule schließlich komplett zu schmeißen. Es fühlte sich an, als würde das Lernen und Arbeiten keine Ende nehmen. Dauernde Geldsorgen und der Kredit waren meine ständigen Begleiter.
Ich entschied mich, im Schnellrestaurant in eine Führungsposition in Vollzeit zu wechseln. Das relativ gute Gehalt ließ mich aufatmen. Von dem, was übrig war, lud ich meine Mutter und Schwester zu unserem ersten Familienurlaub nach Paris ein, kaufte mir eine Spiegelreflexkamera, um die Eindrücke der Stadt festhalten zu können und gönnte mir eine Theatervorstellung von Brechts Dreigroschenoper. In der heißt es passenderweise: “Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral”.
Ein Gefühl der Entschleunigung stellte sich ein. Zum ersten Mal war es mir möglich zu reflektieren, was eigentlich alles passiert war, seitdem ich anderthalb Jahre zuvor in Paris angekommen war.
Ich hatte jetzt zwar wieder ein bisschen Energie, aber ich trauerte der Schulzeit sehr nach, weil ich das Gefühl hatte, durch den abrupten Wechsel ins Arbeitsleben eine Chance verpasst zu haben. Zwar wurde mir eine “Karriere” und Weiterbildungen angeboten, die sogar Spaß machten. Eine innere Stimme sagte mir aber, dass das hier nicht mein Weg war. Ein tieferer Sinn und ein intellektueller Anspruch fehlten. Einfach nur zu arbeiten, weil ich gut arbeiten kann, erschien mir nach den vielen Anstrengungen als vertane Chance, nachhaltig für mich zu sorgen.
Das bedeutete das Ende meiner Zeit in Paris. Ich ging nach Berlin zurück. Diesmal traute ich mich sofort auf das Gymnasium und fing zum dritten Mal eine zwölfte Klasse an, weil meine Leistungen aus Frankreich nicht anerkannt wurden. Ich war aber so müde von einer Schulzeit, in der ich immer wieder das Gefühl gehabt hatte, nicht als Erwachsener behandelt zu werden, dass ich die Schule mit so wenig Aufwand wie möglich hinter mich brachte – und so sicher die eine oder andere Lernchance verpasste.
Will das Jobcenter mir helfen – oder mich nur verwalten?
Natürlich musste ich auch in Berlin arbeiten. Nachts zählte ich im Auftrag der Verkehrsbetriebe Menschen in den öffentlichen Verkehrsmitteln und fragte sie nach ihrem Weg. Tagsüber saß ich in der Schule.
Als ich in der 13. Klasse war, wurde ich vom Jobcenter einbestellt. Der Brief kam gleich mit einer Drohung, dass meiner Familie die Mittel gekürzt würden, wenn ich nicht erschiene. Ich konnte das nicht einordnen und war sehr verunsichert. Ich erinnere mich noch, wie der Termin ablief: Ich ging einen langen Flur entlang und am Ende stand ein bulliger Security-Typ vor einer Bürotür. So hatte ich mir den Gästebereich einer Haftanstalt vorgestellt. Hinter der Tür saß eine Frau. Im Augenwinkel sah ich einen Alarmknopf. Den hatte sie wohl zu ihrem Schutz, falls jemand übergriffig wurde.
Die Sachbearbeiterin belehrte mich ziemlich mechanisch über die Pflichten als Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft. Ich verstand, dass es um die Berechnung des Hartz IV-Satzes meiner Mutter ging. Ich wohnte wieder zuhause und meine Einnahmen zahlten auf unsere Bedarfsgemeinschaft ein.
Wie ich denn vorhätte, nach meinem Abitur zur finanziellen Entlastung des Haushalts beizutragen, fragte mich die Sachbearbeiterin. Ich war total überrascht. Ich hatte darüber nachgedacht, zu studieren und war trotz meines “Misserfolgs” in Paris stolz, dass ich die Hälfte des Abiturs in einem anderen Land abgelegt hatte und mit einem Notenschnitt vor ihr saß, mit dem ich mich wirklich nicht verstecken musste.
Ich sollte ihr dann ein paar Dinge nennen, die mich interessierten. Sie gab mir ein Buch mit Ausbildungsberufen mit. Da sollte ich mal reinschauen. Ab diesem Zeitpunkt beschäftigte ich mich dann wirklich mit möglichen Ausbildungsberufen statt eines Studiums. “Fremdsprachenkorrespondent Englisch/Französisch”, das klang gut. Aber war das wirklich mein Weg? Ich hatte keine Anhaltspunkte, ob man mir im Jobcenter helfen wollte, mich nicht zu überschätzen, oder ob das einfach Beratung nach Schema F war, damit die Statistiken stimmen.
“Beschwere dich nicht, sondern reiß dich zusammen!”
Um etwas Zeit zu gewinnen, rettete ich mich in den Zivildienst. Auch in dieser Zeit war das Geld knapp – aber noch mehr Sorgen bereiteten mir die Arbeitsbedingungen in dem Pflegeheim, in dem ich meinen Zivildienst leistete. Wie damals üblich, wurden Zivildienstleistende fast wie ausgebildetes Pflegepersonal eingesetzt: Schichtdienst mit teilweise Sieben-Tage-Wochen. Dazu der Druck, nicht krank werden zu dürfen, weil es keine Vertretung gab und die Angst, dass die alleinerziehende Kollegin für einen einspringen und kurzfristig eine Kinderbetreuung organisieren muss, wenn man doch erkrankt.
In dieser Zeit bin ich zum ersten und bisher auch einzigen Mal in meinem Leben tatsächlich richtig krank gewesen. Zwei Monate fiel ich aus, weil ich unter dem emotionalen Druck, für Bewohner*innen und Kolleg*innen da sein zu müssen, unglaublich litt und ich gerade mal ein paar hundert Euro dafür bekam. Hier galt das Prinzip: Niemals darüber beschweren, was du gerade erlebst! Es ist unser aller Arbeitsalltag, reiß dich zusammen! Es gab keine Stelle, an der ich das eskalieren konnte – oder ich habe aus Scham nicht richtig danach gesucht.
Meinen Zivildienst habe ich mit Demut, Wut und Unverständnis über die Arbeitsbedingungen abgeschlossen. Die Dynamik, dort die Menschen gegeneinander ausspielen, die füreinander da sind und Unglaubliches leisten, um mehr Profit zu generieren, ist für eine Gesellschaft wie unsere ein Armutszeugnis, unverantwortlich und respektlos.
In unserer neuen SerieDas Themabeleuchten wir diesmalDie soziale Spaltung. Wie sehr bestimmen Armut oder Reichtum unser Leben – und können wir diese Spaltung irgendwie überwinden? Diskutiere mit undabonniere unseren Newsletter, um nichts zu verpassen.
Nach dem Zivildienst entschied ich mich gegen eine Ausbildung und für ein Studium der Kulturwissenschaften (Sozialwissenschaften und Linguistik). Ich war sehr aufgeregt und gleichzeitig nicht sicher, ob ich die richtige Wahl getroffen hatte. War dieser Studiengang spannend und schaffbar, wie ich hoffte? Ich hatte große Angst davor, mich zu überfordern. Denn einen Wechsel des Studiengangs hätte ich finanziell nicht schultern können. Die schmerzhafte Erfahrung aus Paris, wie teuer Extraschleifen in der Ausbildung einen zu stehen kommen können, war noch immer präsent.
À propos teuer: Wie würde wohl die Finanzierung meines Studiums klappen? Der Antrag auf BAföG war sehr kompliziert. Ich musste binnen kurzer Zeit ziemlich viele Nachweise erbringen, etwa zu den Einkünften meines Vaters, den ich eigentlich nie bewusst kennengelernt hatte. Ziemlich hohe Barrieren für ein Programm, das eigentlich unterstützen soll.
Obwohl ich den Antrag mit großem Vorlauf gestellt hatte, kam die BAföG-Zusage erst kurz vor Beginn des ersten Semesters. Das war ein sehr komisches Gefühl, ich hatte die Zusage für mein Studium, wusste aber nicht, ob ich es antreten konnte. Wenn ich mir sicherheitshalber einen Job gesucht hätte, wären die Einkünfte daraus vielleicht mit dem BAföG verrechnet worden.
Ich begann mein Studium und pendelte täglich zwischen Berlin und Frankfurt an der Oder. Nur das Geld kam nicht. Da war es wieder – dieses Gefühl, nicht weiter denken zu können als bis zum nächsten Tag und zu hoffen, dass endlich Geld auf dem Konto eingeht. Das BAföG-Amt vertröstete mich von Woche zu Woche. Dieser Zustand dauerte fast drei Monate an.
Das Schamgefühl, nicht für sich selbst sorgen zu können
Ich hatte damals gerade einen Partner kennengelernt, mit dem ich mehrere Jahre zusammenbleiben würde. Auch ihm gegenüber war es mir total unangenehm, finanziell nicht selbst für mich sorgen zu können. Die gefühlte finanzielle Abhängigkeit von jemandem, den man gerade erst kennenlernt, ist sehr belastend. Glücklicherweise sah mein damaliger Partner das sehr locker und es spielte keine negative Rolle für das Werden unserer Beziehung – auch wenn das Schamgefühl trotzdem da war.
Große Sprünge konnte ich mit dem BAföG nicht machen. Ich wäre während des Studiums gerne gereist. Wir hatten ja nie Familienurlaub gemacht und in Paris hatte ich vor allem gelernt und gearbeitet. Reisen einfach nur des Reisens wegen hatte ich bisher noch nicht gemacht, weil es schlicht zu teuer war. Viele meiner Kommiliton*innen hatten entweder Erspartes oder ihre Eltern oder Großeltern, die etwas dazugaben, wenn sie sich selbst eine Reise nicht leisten konnten. Auf diese Geldquellen konnte ich nie zurückgreifen.
Spätestens, als ich ein Studienpraktikum bei der Lufthansa absagen musste, weil die Vergütung von nur 500 Euro im Monat nicht ausgereicht hätte, um dafür nach Frankfurt am Main zu ziehen, war klar: Ich brauchte endlich ein finanzielles Polster für Dinge, die sich nicht sofort auszahlen, aber strategisch auf meinen Lebenslauf einzahlen – und vor allem auch für Dinge, die mir Spaß machen, durch die ich mich ohne Gelingenszwang selbst herausfordern kann.
Schon als Kind konnte ich nicht einfach ein Instrument lernen, weil das “sich ausprobieren” für meine Mutter einfach zu teuer gewesen wäre. Sie hat es nie geschafft, sich trotz aller Mühen so ein Polster aufzubauen. Ihre Erwerbsbiografie hat durch die vielen Jahre nicht-sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung nicht einmal für den Anspruch auf Grundrente gereicht. Neulich erzählte sie mir, dass sie sich darauf einstellt, im Rentenalter weiter zu arbeiten. Sie verkauft auf Flohmärkten selbstgenähte, liebevoll gestaltete Kissenbezüge und ausgebesserte Second Hand-Kleidung, Jedes Wochenende. In der Pandemie fällt aber selbst diese Einnahmequelle momentan weg.
Mein Studium in Kulturwissenschaften habe ich nach zwei Semestern abgebrochen. Ich mochte es sehr, hatte gute Noten und war sogar Tutor an einem Lehrstuhl meines Fachbereichs, aber irgendwas zog mich in Richtung Informatik. Ein Studienkredit half mir, den Studienwechsel zu finanzieren. Ich habe damals hoch gepokert, dass sich diese Investition in mich lohnen würde. Nach den ersten drei Monaten wusste ich, dass ich die für mich intellektuell und fachlich fruchtbarste Herausforderung gefunden hatte.
An diesem Punkt in meinem Leben habe ich zum ersten Mal mehr Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit gefühlt und gelebt. Die Unabhängigkeit von der Rechtfertigung jeder Unterstützung, von Scham und vom Verstecken der eigenen Armut war wie ein Reset-Knopf für mein Leben.
Wir alle brauchen bedingungslose Sicherheit, um kreativ und frei lernen und leben zu können
Ein Stipendium verstärkte dieses Gefühl kurze Zeit später. Ich erhielt es für mein Engagement im Studiengang und für meine Leistungen im Zusammendenken der Bereiche Informatik, Ethik und Gesellschaft. Die Sicherheit in Form des Studienkredits und Stipendiums waren ein großer Katalysator, dass ich so konzentriert, kreativ und befreit lernen und wirken konnte. Ich bin der festen Überzeugung, dass Sicherheit durch Geld bei vielen Menschen ähnlich zur Entfaltung ihrer Potenziale beitragen würde. Das Konzept hinter dieser Idee heißt Bedingungsloses Grundeinkommen.
Auch wenn mein Kredit nicht bedingungslos war und ich ihn immer noch abzahle, ist die Erkenntnis aus meiner Biografie doch genau die: Geld sichert Teilhabe und macht es möglich, über Dinge nachzudenken, die im Überlebensmodus keinen Platz haben. Dafür sollte man nicht das Risiko einer Verschuldung eingehen müssen.
Ich bin regelmäßig wütend, wenn über so genannte Hartz IV-Familien Ratschläge ausgekippt werden, wie man mit wenig Geld gut leben kann – häufig von Menschen, die das selbst nicht schaffen müssen oder sich freiwillig entschieden haben, mit wenig zu leben.
Im Fernsehen dienen Menschen aus weniger gebildeten Schichten viel zu oft nur der Belustigung. Wir brauchen eine neue Sicht auf Armut: weg von der vermeintlichen Verantwortung der Einzelnen, hin zum strukturellen Problem unserer Gesellschaft. Ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte hier empowernd wirken.
Nach meiner Armutserfahrung haben sich einige Phasen meines Erwachsenwerdens wie eine zweite Sozialisierung oder eine Art Resozialisierung angefühlt. Immer wieder musste ich meine Sprache, Umgangsformen, mein Sicherheitsgefühl an neue Bedingungen anpassen. Bis heute fühlt es sich immer ein bisschen danach an, als müsste ich etwas aufholen, weil andere schon früher damit anfangen konnten. Wenn unsere Gesellschaft einem den Start erschwert und die finanzielle Absicherung im Alter nicht klar geregelt ist, bleibt das ganze Leben eine Aufholjagd.
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