Isabelle Rogge weiß seit ihrer Kindheit, wie Armut Lebenschancen verbaut. Umso kritischer schaut sie heute denen auf die Finger, die etwas an der extremen Ungleichheit ändern könnten. Den Wahlkampf und die Pläne der nächsten Regierung hält die Autorin für einen schlechten Fiebertraum. Hier schreibt Isabelle Rogge, was sich jetzt ändern muss.
Der Bundestagswahlkampf war für die meisten von uns so intensiv wie ein schlechter Fiebertraum. Vielleicht liege ich deshalb zwei Tage nach der Wahl mit Fieber im Bett. Mitten am Tag schlafe ich immer wieder ein, um kurz darauf verschwitzt wieder aufzuwachen. Mein Kind ist ebenfalls krank zu Hause, aber fitter als ich. Ab und zu streichelt es mein Gesicht mit den Worten: "Mama, alles wird gut."
Ich bin froh, dass mein Kleinkind in diesen Tagen so viel Zuversicht hat und nach dem "Alles wird gut..." nicht den Songtext von Felix Kummerweitersingt: "…die Menschen sind schlecht und die Welt ist am Arsch. Aber alles wird gut! Das System ist defekt, die Gesellschaft versagt. Aber alles wird gut!"
Nein, mein Kind hat echte Zuversicht. Vielleicht, weil alte weiße Männer, deren Leben sich vor allem um Geld, Macht und Menschenfeindlichkeit drehen, darin bisher nur selten eine Rolle spielen. Außerdem ist es erst dreieinhalb Jahre alt. Es geht noch nicht zur Schule, kennt also noch keine Noten und den damit verbundenen Leistungsdruck.
Stattdessen kennt mein Kind fürsorgliche Frauen unterschiedlichen Alters, verschiedener Herkunft und Hautfarbe, die ihm – neben unserer Kernfamilie – trotz ungünstiger politischer Rahmenbedingungen Stabilität bieten.
"Denke ich an das Weihnachtsfest meiner Kindheit, spüre ich sofort dieses heimelige Glücksgefühl. Von den Sorgen meiner Familie habe ich damals nichts gespürt." Isabelle Rogge als Kind in Soest in Westfalen. Foto: Werner Rogge
Wer spricht hier?
Isabelle Rogge hat schon als Kind erlebt, wie sich Armut auf Lebenschancen auswirkt. Heute schreibt die freie Autorin und Dozentin für Wissenschaftskommunikation gegen die Vorurteile an, die unsere Gesellschaft gegen Menschen in Armut hat. In ihrem Podcast "Halbwaisheiten" spricht Isabelle mit bekannten und weniger bekannten Menschen über das aktuelle Zeitgeschehen, Lebensweisheiten und die eigene Verletzlichkeit. Am 2. April erscheint die zweite Staffel des Wissens-Podcasts "Listen to Wissen", den Isabelle moderiert.
Da ist zum Beispiel die Tagesmama, die unser Kind zwei Jahre lang betreut hat und nun als Bonus-Oma in unserem Leben bleibt. Beim Kennenlernen erklärte sie uns damals, dass sie mit den betreuten Kindern nur in ihrer Muttersprache spricht. Wir entschieden spontan: "Gut, dann ist das so." Unser Kind verlor nichts, sondern gewann viel dazu. Eine liebevolle Bezugsperson, eine neue Sprache und Kultur und die Gemeinschaft mit anderen Kindern, die alle unterschiedliche Migrationsgeschichten mit sich brachten.
Mittlerweile geht unser Kind in eine Kita. Auch hier steht die Zusammensetzung der Gemeinschaft aus Erzieherinnen, Kindern, Reinigungskräften und dem Hausmeister in starkem Kontrast zur Repräsentation der Abgeordneten im Bundestag. Auf den Zahnputzbechern in der Kita liest man nicht 20 oder 14 Mal die Namen Stefan oder Johannes, wie das auf den Zahnputzbechern im Gemeinschaftsbad des Bundestags der Fall wäre, wenn es das geben würde.
In der Kita kleben Namen wie Charlotte und Felix genauso selbstverständlich wie Ahmat, Kian oder Solomiya unter den dazugehörigen Bildern. All diese Kinder kommunizieren und spielen montags bis freitags viele Stunden miteinander. Nicht immer konfliktfrei. Aber unabhängig davon, wo sie, ihre Eltern oder Großeltern geboren sind und wie gut sie Deutsch sprechen.
Mein Kind geht gerne an diesen Ort, der glücklicherweise gut ausgestattet ist und von der Migration und Empathie vielfältiger Menschen und Lebensgeschichten profitiert. Er könnte noch mehr Vielfalt abbilden, wenn zudem noch mehr Kinder aus Familien mit weniger formaler Bildung sowie Kinder mit Behinderungen inkludiert würden.
Schulden für Aufrüstung ohne Wimpernzucken – aber die Kinderarmut bleibt
Ich hätte es gut gefunden, wenn CDU, CSU und SPD ihre Sondierungsgespräche in Anwesenheit von Kindern jeglicher Bedürfnisse geführt hätten. Stellen wir uns mal vor, sie hätten kindgerecht erklären müssen, was genau Schulden sind und warum sie diese ohne jegliches Wimpernzucken in hohem Maße für Aufrüstung möglich machen wollen, während das Beenden der Kinderarmut keine Option mehr zu sein scheint – obwohl wir dafür wesentlich weniger Schulden machen müssten.
Ich glaube, wenn die Teams von Union und SPD ihr Sondierungspapier vor Kindern verantworten müssten, wären einige Personen für ihren verklausulierten Rassismus gegen Schutzsuchende in Erklärungsnot geraten und hätten sich vielleicht sogar für ihre Ansichten geschämt. Und vielleicht wäre dann der Paritätische Wohlfahrtsverband in seinem Instagram-Post zum Sondierungspapier nicht zu dem fatalen Schluss gekommen: "59 Zeilen zum Thema Migration, 0 Zeilen zu Armut."
Von der Umsetzung einer Kindergrundsicherung, die die Ampelkoalition noch versprochen, jedoch nie umgesetzt hat, ist im Sondierungspapier der künftigen Regierung keine Spur mehr. Vermögenssteuer für Überreiche? Fehlanzeige. Stattdessen finden sich schon jetzt deutliche Hinweise darauf, dass Menschen mit wenig Geld weiter verdächtig behandelt werden. Dass Druck auf diese aufgebaut wird in Form von Bezahlkarten und harten Bürgergeld-Sanktionen.
Druck, der genau die Mechanismen verstärkt, die soziale Ungleichheit zementieren, statt den Betroffenen menschenwürdige Unterstützung zu bieten. Menschen in Armut müssen sich warm anziehen, denn wir können uns garantiert auf weitere Jahre des Bürgergeld-Beziehenden-Bashings, Leistungsdebatten und dem Vorwurf von Neid gefasst machen. Das "C" für christlich und das "S" für sozial möchten gerne aus den Parteizentralen abgeholt werden.
Wir brauchen menschenfreundliche Geschichten statt klassistischer Desinformation
Ich habe unterdessen keine Lust mehr, meine Energie nur darauf zu verwenden, rassistische und klassistische Falschaussagen und Desinformationen von Menschen zu entkräften, die nicht wissen, wie es ist, ständig systematisch diskriminiert zu werden. Insbesondere, wenn diese Aussagen von studierten Politiker*innen, aber auch Journalist*innen kommen, die so gern Bildung als Schlüssel für Probleme sozialer Gerechtigkeit propagieren.
Diese Menschen sollten, ihrer Ausbildung nach zu urteilen, wissenschaftlich oder journalistisch sauber arbeiten können, scheinen den eigenen Bildungsschlüssel zum Recherchieren aber selbst häufiger zu verlegen. Die kleine Anfrage der CDU/CSUzur politischen Neutralität staatlich geförderter Organisationen hat uns gezeigt, dass ein lang vergangenes Jurastudium Merz und Söder nicht automatisch zu faktenbasierten Unterstützenden der Zivilbevölkerung gegen rechts macht.
Umso mehr möchte ich in den kommenden Jahren wieder menschenfreundliche Geschichten erzählen und wissenschaftlich fundierte Thesen setzen beziehungsweise bekräftigen. Und das für Menschen aller Bildungsstände.
"Gegen Armut hilft Geld!" Isabelle Rogge erklärt beim TEDx-Talk in Potsdam, wie klassistische Vorurteile gegen Menschen in Armut die Sozialpolitik beeinflussen. Foto: Manuel Herrmann
Wenn ihr diesen Text bis hierher gelesen habt, ist euch möglicherweise aufgefallen, dass ich versucht habe, alltagsnahe und möglichst unkomplizierte Sprache zu verwenden. Ebenso habe ich darauf verzichtet, spaltende Aussagen von Politiker*innen zu wiederholen – denn oft verstärken wir durch ihre Wiederholung ungewollt die Wirkung ihrer Aussagen. Selbst wenn wir sie kritisieren oder in Frage stellen möchten.
Stattdessen habe ich mich in diesem Text auf Bereiche fokussiert, die in den letzten Wochen und Monaten meines Erachtens falsch diskutiert wurden oder zu wenig Aufmerksamkeit bekommen haben. Während Migration und Armut politisch wie medial mehrheitlich destruktiv und irreführend verhandelt werden, bleiben die Belange von minderjährigen Kindern und ihren Familien beinahe gänzlich unsichtbar.
Familien brauchen solidarische Menschen, die sich für ihre Belange stark machen
"Kinder und Jugendliche sind eine demografische Minderheit. Wählen durften sie nie. Natürlich kann man anmerken, dass ihre Eltern sie politisch repräsentieren. Nur ist es so, dass Eltern von Minderjährigen selbst eine demokratische Minderheit darstellen. Unter den Wahlberechtigten haben sie zum einen kein besonders großes Gewicht. Würden alle Eltern von Minderjährigen (Mütter und Väter zusammengerechnet) einen deutschlandweiten Verband gründen, hätten sie viele Millionen Mitglieder weniger als der ADAC."
Familien mit minderjährigen Kindern werden künftig also solidarische Menschen brauchen, die sich für ihre Belange stark machen, damit die Politik ihre Interessen vertritt. Sofern sie Migrationsgeschichte haben oder in Armut leben, noch mehr.
So gut ich kann, werde ich daher weiterhin meine Kraft konstruktiv für Minderheiten und marginalisierte Menschen einsetzen. Vorausgesetzt natürlich, ich liege nicht mit Fieber im Bett.
Was würdest du Isabelle Rogge gerne fragen? Schreib es uns in die Kommentare. Die interessantesten Fragen stellen wir Isabelle am Mittwoch, 19. April um 19 Uhr, wenn sie in unserer Live-Verlosung zu Gast ist.
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