Für unser neues Format “Drei Fragen an…” haben wir den Soziologen Klaus Dörre getroffen. Er erklärt uns, warum der Begriff Zangenkrise nichts mit unsortierten Werkzeugkästen zu tun hat, und wie wir sicherstellen, dass soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit Hand in Hand gehen.
1. Herr Dörre, was genau ist denn eine Zangenkrise?
Klaus Dörre: Moderne kapitalistische Gesellschaften bewegen sich in einer Zwickmühle: Bleibt das Wirtschaftswachstum aus, steigt die soziale Not; zieht das Wachstum an, eskalieren ökologische Großgefahren – allen voran der Klimawandel. Deshalb befinden sich marktwirtschaftlich-kapitalistische Gesellschaften im Zangengriff von Ökonomie und Ökologie.
Um die Zangenkrise zu überwinden, bleiben eigentlich nur zwei Optionen: Entweder es gelingt, das Wirtschaftswachstum von seinen (sowohl ökologisch als auch sozial) destruktiven Folgen zu entkoppeln. Oder Gesellschaften müssen sich vom Zwang zu raschem dauerhaftem Wirtschaftswachstum befreien.
Die erste Option entspricht der Mehrheitsmeinung ökonomischer und politischer Eliten. Betrachtet man einzelne Weltregionen, kann die Rechnung zeitweilig aufgehen; im Weltmaßstab funktioniert das aber nicht. Deshalb bleibt vor allem in den frühindustrialisierten Ländern nur der Bruch mit dem Wachstumsfetisch. Doch ganz gleich, welche Option man wählt: Ökologische ist nicht ohne soziale Nachhaltigkeit zu haben.
2. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk Kultur sagten Sie einmal: „Mehr substanzielle Gleichheit wäre auch ein Beitrag zu ökologischer Nachhaltigkeit." Weshalb ist das so?
Klaus Dörre: Weil ökologische Großgefahren wie der Klimawandel stets ein Gerechtigkeitsproblem beinhalten. Zwar ist die Datenlage zum Verhältnis von sozialer Ungleichheit und Treibhausgasemissionen unbefriedigend. Die Berechnungen und Schätzungen des belegen jedoch einen eindeutigen Trend:
2019 zeichneten die obersten zehn Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung für 48 Prozent der Gesamtemissionen verantwortlich, die untere Hälfte nur für zwölf Prozent.
In Nordamerika und Europa hat die untere Einkommenshälfte ihre Emissionslast seit 1990 um fünf bis 15 Prozent reduziert. Diese Einkommensklassen erreichen damit Werte, die sich denen der annähern oder diese gar erreichen.
Das wohlhabendste eine Prozent der Weltbevölkerung emittierte 2019 hingegen pro Kopf 26 Prozent mehr als vor 30 Jahren. Die reichsten 0,01 Prozent legten gar um 80 Prozent zu. Hauptursache für ihre steigende Emissionslast sind Investitionen, nicht individuelle Konsummuster.
2019 resultierten über 70 Prozent der Emissionen des reichsten einen Prozents aus Investitionen von privaten Unternehmen oder Staaten. Parallel zum Anstieg der Ungleichheit und zur Konzentration der Vermögen, hat der Anteil der Investitionen am Pro-Kopf-Fußabdruck der kapitalistischen Eliten seit den 1990er Jahren beständig zugenommen.
Die Daten signalisieren, dass die Luxusproduktion für den Luxuskonsum der wohlhabendsten Klassen zu einem der wichtigsten Treiber des Klimawandels geworden ist. Wer das ignoriert und ökologische Nachhaltigkeit unter Ausblendung sozialer Gerechtigkeit praktiziert, treibt die unteren Klassen in die ausgebreiteten Arme der (anti-)ökologischen Konterrevolution.
3. Wie können wir sicherstellen, dass soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit Hand in Hand gehen?
Klaus Dörre: Durch rasche und radikale Verwirklichung einer Nachhaltigkeitsrevolution. Dazu braucht es einen Staat, der Märkte nicht nur repariert, sondern selbst kreiert, reguliert und an Nachhaltigkeitsziele koppelt.
Um es klar zu sagen: Gäbe es einen solchen Staat, der die zur verbindlichen Richtschnur politischer Missionen machen würde, wäre das ein riesiger Fortschritt gegenüber dem Status quo. Denn ohne den Staat als gestaltenden Akteur hat die sozial-ökologische Transformation nicht den Hauch einer Chance.
Den Staat – ähnlich wie in China und nun auch in den USA – gezielt einzusetzen, um die Wirtschaft zu entwickeln (und beispielsweise eine nachhaltige Wasserstoffwirtschaft mit gerechten Handelsbeziehungen aufzubauen), kommt hiesigen Wirtschaftspolitikern allerdings erst gar nicht in den Sinn. Ein staatlich gelenkter radikaler Umbau der Wirtschaft ist mit schwerfälligen Behörden, die im Routinemodus erstarren, kaum zu machen.
Hinzu kommt, dass privatwirtschaftliche – und neuerdings auch militärische – Interessen den finanziellen Handlungsspielraum des Staates begrenzen. Wir sehen uns mit einem eigentümlichen Widerspruch konfrontiert: Hält man an der Möglichkeit fest, dass Wirtschaftswachstum von seinen umweltschädlichen Auswirkungen getrennt werden kann, dann müssen sich fast alle anderen Dinge schnell ändern. Nur die Grundregel des kapitalistischen Wirtschaftssystems – der Druck zur ständigen Vermehrung von Kapital und zum fortlaufenden Wirtschaftswachstum – soll erhalten bleiben.
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Der Finanzkapitalismus wird in dieser Vorstellung zum „Naturkapitalismus“. Dabei sollen dieselben systemischen Mechanismen, die die Möglichkeit des hervorgebracht haben, nun zu seiner Überwindung beitragen. Ich denke jedoch, dass das Streben nach immer mehr Kapital an die Grenzen eines Planeten mit begrenzten Ressourcen und empfindlichen Ökosystemen stößt.
Deshalb zielen Demokratisierungsansätze darauf ab, dieses Prinzip zu überwinden. Das geht nur, wenn die Wirtschaft durch demokratische Zivilgesellschaften kontrolliert und geplant wird. Dafür sind neue Formen kollektiven Eigentums, wie Genossenschaften oder Belegschaftseigentum, notwendig – ebenso wie eine stärkere Gewichtung des Öffentlichen (Commons) in Verbindung mit demokratischer Rahmenplanung.
Wichtig sind zudem politische Innovationen, etwa in Gestalt von Transformations- und Nachhaltigkeitsräten, die Öffentlichkeit für die Erreichung von Nachhaltigkeitszielen herstellen und so kontinuierlich Druck auf wirtschaftliche und politische Entscheidungsträger ausüben.
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