Häusliche Gewalt treibt Menschen in die Armutsfalle. Wer aus seinem Zuhause fliehen muss, verliert oft jede Absicherung. Selina aus Berlin unterstützt betroffene Frauen und ihre Kinder, sich ein neues Leben aufzubauen. Im Interview erzählt sie, wie das Grundeinkommen dabei helfen könnte.
Selina, was bedeutet für dich Chancengerechtigkeit?
Selina: Unser Verein asap e.V. ist von der Überzeugung getragen, dass das Private politisch ist. In meiner Arbeit bin ich mit gesellschaftlichen Strukturen konfrontiert, die bereits von Ungleichheit geprägt sind und Ungleichheit fortschreiben. Ungleichheit, die begünstigt wird durch Gewaltsituationen.
Sehr oft sind Frauen und Kinder von Gewalt in Haushalten betroffen. Die Gewalt kann viele Gründe haben und viele Formen annehmen. Aber sie wirkt sich immer auf sämtliche Lebensbereiche aus.
In welchen Konstellationen findet häusliche Gewalt in der Regel statt?
Selina: Grundsätzlich findet häusliche Gewalt in allen möglichen Beziehungskonstellationen statt. Aber alle Statistiken und Studien machen klar, dass die Täter zu 80% männlich sind. Dagegen sind die Gewaltbetroffenen überwiegend weiblich gelesene Personen.
Auch Männer können natürlich von häuslicher Gewalt betroffen sein, aber bei Frauen ist die Gewalt häufiger systematisch und die Formen der Gewalt viel schwerer, was etwa den Grad der Verletzung angeht.
Wie hilfst du den Menschen in solchen extremen Situationen?
Selina: Bei asap e.V. helfen wir Menschen, die aufgrund von Gewalterfahrungen schnell ihren Haushalt verlassen müssen. Es ist typisch für solche Situationen, dass diese Menschen schnell sehr viele Entscheidungen treffen müssen. Für diesen Schritt ist sehr oft externe Hilfe notwendig. Frauen gehen meistens zunächst in ein Frauenhaus. Wir begleiten sie dabei.
Wenn wir über häusliche Gewalt sprechen, dann geht es auch um Abhängigkeit. Wenn eine Frau sich entscheidet, in ein Frauenhaus zu gehen, sucht sie aktiv ihren Weg aus der Abhängigkeit der Gewaltsituation. Sie entscheidet sich dafür zu gehen und oft einen sozialen Abstieg in Kauf zu nehmen, um wieder selbstbestimmter leben zu können.
Frauenhäuser sind vor allem Orte, an denen sich Frauen sortieren, stabilisieren und neu orientieren können. Orte, an denen wieder eigene Entscheidungen möglich sind. Dabei unterstützen wir die Frauen mit einer feministischen Haltung in unserer Beratungsarbeit.
Im Interview: Selina Höfner unterstützt mit ihrem Verein asap e.V. Frauen und ihre Kinder, die von Gewalt betroffen sind, beim Aufbau eines neuen Lebens. An der Berliner Alice-Salomon-Hochschule gibt sie ihre Erfahrungen an Studierende weiter. Seit April 2022 erhält die Berlinerin unser 1085. Bedingungsloses Grundeinkommen für ein Jahr.
Wie machen die Menschen weiter, wenn sie den Haushalt verlassen haben, in dem sie Gewalterfahrungen machen mussten?
Selina: Dann folgt die eigentliche Aufgabe, nämlich die Vermittlung einer Wohnung. Es ist sehr wichtig für die gewaltbetroffenen Frauen und ihre Kinder, eine langfristige Wohnung zu finden, weil sie sonst sehr schnell in die Wohnungslosigkeit abrutschen. Aber dieser Schritt ist erneut von ungleicher Chancenverteilung geprägt.
Inwiefern?
Selina: Dieser Schritt, den Haushalt zu verlassen, ist sehr oft mit einer konkreten Armutsgefahr verbunden. Die Frauen drohen unter das Existenzminimum zu fallen. Studierte Frauen kann dies ebenso betreffen wie Frauen ohne Berufsausbildung. Denn sehr oft geht dieser Schritt mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses einher. In diesem Punkt besteht Gleichheit in der Ungleichheit.
Mit Kindern ist der Schritt, den eigenen Haushalt zu verlassen, oft noch viel schwerer. Dabei ist es so wichtig, dass Frauen und Kinder in gewaltfreien Haushalten leben können, um ihr Leben selbstbestimmt und unbeschadet zu gestalten.
Wie sieht es mit staatlicher Unterstützung aus, können die Betroffenen keine Leistungen beantragen?
Selina: Doch, die Frauen müssen so schnell wie möglich Grundsicherung beantragen. Auch dabei unterstütze ich sie mit unserem Verein. Es kann unter Umständen lange dauern, bis sie Grundsicherung erhalten. Etwa, wenn sie notwendige Dokumente zurücklassen mussten. Und die Grundsicherung reicht nur für das Nötigste, vor allem wenn die Frauen Kinder haben, die sie nun alleine versorgen müssen.
Gewalterfahrungen sind also sehr oft auch mit finanziellen Fragen verknüpft?
Selina: Ja, ein Teil von Gewalterfahrungen ist die ökonomische Gewalt. Oft bestehen starke Abhängigkeiten von den Tätern, etwa wenn sich Frauen ihr Bankkonto mit den Tätern teilen.
Nicht selten erhalten Frauen kein oder zu wenig Geld, um den Haushalt zu führen. Entsprechend leidet auch die Fürsorge für die Kinder darunter, weil nicht einmal Grundbedürfnisse befriedigt werden können. Nicht nur der Selbstschutz und der Schutz der Kinder vor Gewalterfahrungen, sondern auch der Schritt aus dem Haushalt sind durch diese finanziellen Abhängigkeiten und Ungleichheiten erschwert.
Wie würde ein Bedingungsloses Grundeinkommen das Leben der Frauen und Kinder verändern?
Selina: Ein Grundeinkommen würde für die Frauen – vor allem, wenn sie Kinder haben – die Chancen zum Handeln massiv stärken. Da das Grundeinkommen jeder Person zustehen würde, verfügten die Frauen somit selbst über Geld. Ihre Kinder wären über das Grundeinkommen ebenfalls finanziell abgesichert. Es wäre viel leichter, für sich und die Kinder zu sorgen und die Grundbedürfnisse zu befriedigen.
Also könnte ein Bedingungsloses Grundeinkommen die von Gewalt betroffenen Frauen und Kinder auch dabei unterstützen, ein neues, selbstbestimmteres Leben aufzubauen?
Selina: Ich gehe schon davon aus. Noch ist der Weg ins Frauenhaus viel zu oft mit Mittellosigkeit verbunden und deswegen ein notwendiger Schritt, den manche erst spät wagen können.
Oft können die Frauen und ihre Kinder nichts aus dem Haushalt mitnehmen. All das, was sie zum Leben brauchen, muss ersetzt werden. Das Grundeinkommen würde den Frauen und Kindern mehr Chancen beim Neuanfang ermöglichen.
Was wäre der konkrete Unterschied zur heutigen Grundsicherung?
Selina: Heute ist der erste Schritt die Beantragung von Grundsicherung, die nur zur Selbstversorgung im Frauenhaus ausreicht. Aber Grundsicherung bekommt immer die Mutter. Das Bedingungslose Grundeinkommen bekämen auch die Kinder. Es würde in solchen Situationen ganz klar die Angst vor der Armut und in letzter Konsequenz auch das Leid lindern, das Gewaltbetroffene erfahren.
Am Mittwoch, 16. November, ist Selina ab 19.00 Uhr zu Gast auf der Verlosungscouch. Gemeinsam verlosen wir 25 Grundeinkommen und sprechen über Wege aus der Kinderarmut. Bist du dabei?
Du hast im April selbst in unserer Verlosung ein Bedingungsloses Grundeinkommen für ein Jahr gewonnen. Was sind bisher deine eigenen Erfahrungen mit dem Grundeinkommen?
Selina: Als ich das Grundeinkommen gewonnen habe, eröffnete mir das die Perspektive, einen Dokumentarfilm zu planen. Der Film soll die schwierige Situation im Berliner Wohnungsmarkt behandeln. Hier ist ein massives Wegbrechen von Schutzwohnungen zu erkennen. Soziale Träger, die Wohnungen als Schutzräume für Gewaltbetroffene angemietet haben, bekommen von den Hausverwaltungen immer öfter Kündigungen zugesandt. Das setzt diese Träger unter Druck.
Das Grundeinkommen hilft mir, das Filmprojekt zu planen und vorzubereiten. Falls sich die Finanzierung nicht aus Fördermitteln von Stiftungen oder öffentlichen Institutionen bestreiten lässt, möchte ich die Filmtechnik und das Filmteam mit dem Grundeinkommen bezahlen.
Das Thema Grundeinkommen hat mich in Bezug auf meine Arbeit stark beeinflusst. Deswegen soll es unbedingt auch im Dokumentarfilm besprochen werden.
Was denkst du? Kann ein Bedingungsloses Grundeinkommen helfen, Frauen und Kinder, die vor häuslicher Gewalt fliehen, vor Armut zu schützen? Schreib es uns in die Kommentare!