Seit einem halben Jahr heißt Hartz IV nun Bürgergeld. Aber wie die Grundsicherung auch heißt, sie kann Armut immer nur für einige Menschen ausgleichen, nie für alle. Um sie tatsächlich abzuschaffen, führt kein Weg am Prinzip der Bedingungslosigkeit vorbei. Ein gewagter Vorschlag für eine echte Reform: Warum zahlen wir das Bürgergeld nicht einfach allen Menschen?
Ein paar Dinge haben sich in der Grundsicherung zum Jahreswechsel geändert: Wohnungen, die sich die Betroffenen nicht mehr leisten können, werden zwei Jahre lang vom Jobcenter bezahlt, bevor sie zum Umzug gezwungen werden dürfen. Statt 10.000 Euro dürfen Betroffene nun 15.000 Euro für ihre Zukunft sparen.
Ein Skandal, über den niemand spricht
Ganz klar: Die Änderungen gehen in die richtige Richtung. Doch das Kernproblem wird weiterhin ignoriert – und hier geht es nicht um Regelsätze, Anrechnungsgrenzen und Heizkostenzuschüsse: Der Skandal an unserer Grundsicherung ist, dass nur die Hälfte derer, die sie eigentlich bräuchten, sie auch bekommt.
„Selbst Schuld”, könnte man sagen. Doch das wäre zu kurz gedacht, denn Armut ist kein individuelles Problem: Die Folgekosten tragen wir alle. Armut macht krank und führt zu höheren Gesundheitskosten für die gesamte Gesellschaft. Armut erschwert den Zugang zu Bildung und erzeugt neue Armut. Sie kann Kriminalität verursachen – deren Bekämpfung wir mit unseren Steuern bezahlen.
Nicht zuletzt erzeugt die Existenz von Armut eine ständige Drohkulisse: Wenn wir den gesellschaftlichen Abstieg fürchten müssen, handeln wir egoistischer, weniger nachhaltig und ungesünder. Das wiederum schadet der Gesellschaft als Ganzes.
Kurzum: Wenn sich derzeit jede zweite Person in Armut nicht helfen lässt, dann haben wir als Gesellschaft ein riesiges Problem. Wir sollten uns dringend anschauen, warum das so ist und wie wir es ändern können.
Also, warum ertragen Menschen lieber Not und Armut, anstatt sich von Staat und Gesellschaft unterstützen zu lassen? Die Forschung nennt drei Gründe: Scham, Bürokratie und Unwissenheit.
Scham, die sich ständig selbst verstärkt
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, deren Credo lautet: Alle können für sich selbst sorgen, wenn sie sich nur genug anstrengen. In so einer Gesellschaft ist es beschämend, wenn man sich eingestehen muss, dass man es gerade nicht aus eigener Kraft schafft.
Selbst wer diese Scham überwunden hat, wird vom Jobcenter nicht gerade dazu ermutigt, das eigentlich selbstverständliche Grundrecht auf ein Existenzminimum in Anspruch zu nehmen. Immer wieder müssen die eigene sogenannte "Bedürftigkeit" bewiesen, alle Finanzen durchleuchtet und für alles mögliche Nachweise erbracht werden. Nicht umsonst heißt eine gängige Formulierung, man müsse sich "vor dem Amt nackt machen", sich also bloßstellen lassen.
Über all dem schwebt der Geist des Misstrauens: Es herrscht die Grundannahme, dass die Betroffenen an ihrer Erwerbslosigkeit selbst schuld seien und durch Pflichten und Strafen zu Erwerbsarbeit gezwungen werden müssten. Wer sich nicht zwingen lässt, etwa nicht zu einem Termin erscheint oder eine auferlegte Maßnahme nicht wahrnimmt, dem dürfen die Unterstützungsleistungen unter das – zum Leben notwendige – Existenzminimum gekürzt werden. Man nennt diese Geldkürzungen Sanktionen.
Nie mehr verpassen, wenn es etwas Neues zum Bedingungslosen Grundeinkommen gibt!
Das Problem mit den Sanktionen ist nur: Sie bringen nichts. Zumindest nicht das, was man sich von ihnen erhofft. Eine groß angelegte Studie des Berliner Vereins Sanktionsfrei hat drei Jahre lang zwei Gruppen von Hartz IV-Empfänger*innen untersucht: Die eine Gruppe konnte ganz normal sanktioniert werden, während der anderen der Ausgleich aller möglichen Sanktionen garantiert wurde.
Bürokratie, die stigmatisiert statt zu unterstützen
Dass die aktuelle Form der Grundsicherung ein Verwaltungsmonster mit bürokratischer Fantasiesprache ist, versteht man sofort beim Versuch, das sechsseitige Antragsformular auszufüllen – oder auch nur die Kernaussage eines Briefs vom Jobcenter zu entschlüsseln. Die Grundsicherung muss aber so komplex und bürokratisch sein, denn Armutsbetroffenheit festzustellen ist gar nicht so leicht. Allein dieser Prozess beschäftigt täglich zehntausende Menschen.
Die eigentlich gut gemeinte Unterscheidung zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen erzeugt noch ein ganz anderes Problem: Armut wird zu einer moralischen Kategorie. Immer wieder streiten Politiker*innen darüber, ab wann man denn nun "bedürftig" ist, also in Armut lebt, ob Hartz IV-Empfänger*innen Geld für Zigaretten bekommen sollten oder nicht und so weiter. Medien stürzen sich gern auf diese Debatten und bauen damit gemeine Stereotypen über armutsbetroffene Menschen auf.
Allein die Tatsache, dass wir im aktuellen System der Grundsicherung zwischen "Bedürftigen" und "Nicht-Bedürftigen" unterscheiden müssen, stigmatisiert die Armutsbetroffenen und sorgt dafür, dass die eingangs beschriebene Scham weiter steigt – und mit ihr die Quote der Nicht-Inanspruchnahme möglicher Hilfen.
Unwissenheit, die es immer geben wird
Stellen wir uns vor, es gäbe eine Grundsicherung ohne Scham und mit nur sehr wenig Bürokratie. Auch sie würde noch immer nicht allen Armutsbetroffenen helfen können. Denn es wird wahrscheinlich immer Menschen geben, die nicht über das vorausgesetzte Wissen oder die Fähigkeiten verfügen, die es braucht, um die Grundsicherung zu beantragen.
Diese Menschen würden auch weiterhin durchs soziale Raster fallen, die Folgekosten der Armut würden weiterhin wir alle bezahlen, ohne dass den Betroffenen aus der Armut heraus geholfen wäre.
Warum nicht einfach für alle?
Solange wir nach "Bedürftigkeit" unterscheiden, wer einen Anspruch auf Existenzsicherheit hat, wird es weiterhin Armut geben. Der einzige Weg zu einer Gesellschaft, in der wirklich alle genug Geld zum Leben haben, ist das Prinzip der Bedingungslosigkeit.
Aber wie könnte das ganz praktisch aussehen? Ich habe einen gewagten Vorschlag:
Stellen wir uns vor, der Staat würde die Prüfung der "Bedürftigkeit" abschaffen, stattdessen das neue Bürgergeld von 500 Euro pro Monat einfach an alle Menschen auszahlen. Wirklich an alle.
Die Unwissenheit, die Menschen abhält, ihre Ansprüche geltend zu machen, könnte dann nicht mehr zu Armut führen, weil sie alle von Geburt an automatisch jeden Monat Geld erhielten.
Die Bürokratie aus Anträgen, Bewilligungen und Sanktionen gäbe es nicht mehr, Milliarden von Euros und Millionen von Arbeitsstunden in den Jobcentern blieben uns als Gesellschaft erspart.
Und die Scham wäre verschwunden. Nicht nur die demütigenden Gängelungen des Jobcenters und die mediale Bloßstellung fielen weg, sondern die gesamte Grundlage für die Diskriminierung von Armut betroffener Menschen. Die Millionärin würde an jedem Monatsanfang genau dieselbe Summe Geld bekommen wie der Obdachlose.
Trotzdem gerecht
Trotzdem wäre das Bürgergeld für alle gerecht, weil an jedem Monatsende nur diejenigen tatsächlich mehr Geld hätten, die es auch wirklich brauchen. Wie geht das?
Alle Menschen müssten nur etwa 5,5 Prozent mehr Steuern zahlen als heute, wie das ifo-Institut errechnet hat. Mit dem Effekt, dass die Millionärin zwar am Monatsanfang die gleiche Summe Geld erhielte wie der Obdachlose, aber durch die zusätzlichen Steuern unterm Strich mehr an die Gesellschaft zurückgäbe, als sie vom Staat erhalten hat.
So ein System würde also nach wie vor die "Bedürftigkeit" der Einzelnen berücksichtigen. Allerdings wäre diese "Bedürftigkeit" eben keine moralische Frage mehr, die mit Bürokratie geprüft werden muss, die mit Scham und Bestrafung einhergeht – sondern eine reine Frage des Geldes, die ganz nüchtern vom Finanzamt abgerechnet wird.
Eine einfache Formel, die alles ändert
Die Formel dafür könnte einfacher nicht sein: Alle erhalten jeden Monat das Existenzminimum ausgezahlt. Wer mehr verdient, zahlt es in Form von Steuern zurück. Wer weniger verdient, darf es behalten.
Können wir uns so ein Bürgergeld für alle vorstellen? Ja? Dann sind wir zusammen gerade gedanklich den halben Weg zu einem Bedingungslosen Grundeinkommen gegangen!
Um es klar zu sagen: Das Bürgergeld in der aktuellen Höhe von 500 Euro – aber für ausnahmslos alle – wäre immer noch kein Bedingungsloses Grundeinkommen, weil es zwar das gesetzliche Existenzminimum abdeckt – aber keine echte Existenzsicherheit schafft. Für ein Leben in Würde mit der Chance auf gesellschaftliche Teilhabe müsste es deutlich höher ausfallen.
Aber es wäre ein riesiger Schritt, um sofort die versteckte Armut in unserem Land zu beenden – und dabei weder teuer noch schwer umzusetzen: Wir müssten dafür mehr Altes abschaffen als Neues einführen. Etwa neunzig Prozent aller Haushalte hätten genauso viel Geld wie heute oder mehr, lediglich die reichsten zehn Prozent müssten eine leichte Steuererhöhung in Kauf nehmen.
Dass sie sich dagegen wehren, ist kurzsichtig und fatal. Denn der Preis, den wir heute für die Folgekosten von Armut zahlen, ist wesentlich höher als die nötige Steuererhöhung, um sie für immer zu überwinden.
Was denkst du? War die umstrittene Sozialreform von Hartz IV zum Bürgergeld ein Schritt in die richtige Richtung? Ging sie zu weit – wie CDU/CSU finden? Oder nicht weit genug – wie Micha Bohmeyer argumentiert? Schreib es uns in die Kommentare!
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