Wir vergessen oft, dass soziale Spaltung nicht nur Erwachsene betrifft. Jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in Armut auf. Diese Kinder haben keine Stimme. Steven erinnert sich für uns an die Momente seiner Kindheit, die ihn bis heute prägen. Erster Teil einer sehr persönlichen Biografie.
Letzte Woche Donnerstag habe ich wie gewohnt meinen Wochenendeinkauf gemacht. An der Supermarktkasse zahlte ich kontaktlos mit meiner EC-Karte. Nachdem ich den PIN eingegeben hatte, zeigte die Anzeige “Zahlung abgelehnt”. Ich war kurz irritiert.
Der Kassierer verzog keine Miene, startete den Zahlungsvorgang erneut. Hinter mir in der Schlange standen zwei Mädchen, die eine sagte zur anderen: “Hey, rechne nochmal nach, wir haben nur fünf Euro dabei.” Da schoss mir eine Erinnerung in den Kopf, die ich schon lange nicht mehr präsent hatte.
In meiner Kindheit war es gefühlt fast immer so, dass wir einen ganz klaren Betrag zur Verfügung hatten, der oft nicht für den ganzen Einkauf reichte. Meine Mutter hatte mir beigebracht, an der Kasse die wichtigsten Lebensmittel vorne und die weniger wichtigen hinten auf das Band zu legen. So gingen wir sicher, dass wir den Supermarkt auf jeden Fall mit den Produkten verließen, die wir auf jeden Fall brauchten.
“Früh gemerkt, dass meine Familie anders war”
Wenn der Einkauf mal etwas größer ausfiel, weil ein bisschen mehr Geld im Portemonnaie war, sagte meine Mutter der Kassiererin so etwas wie: “Können sie bitte bei 50 Mark Stop machen?” An der Kasse wurde die Zwischensumme angezeigt – und wenn sie schon höher war als unser Budget, mussten wir uns gegen ein paar Produkte entscheiden, die dann im Supermarkt blieben.
Als ich älter wurde und sich das Zahlen mit EC-Karte durchsetzte, rief meine Mutter immer vor dem Einkauf am Geldautomaten den Kontostand ab. Es ging selten darum, ob noch Geld auf dem Konto war, sondern, ob der Dispositionskredit überhaupt noch einen Einkauf am Monatsende zuließ. Wenn es dann beim Einkaufen zu Komplikationen kam, weil der angezeigte Kontostand doch nicht ganz aktuell war, wurde es unangenehm an der Kasse. Nicht wissend, wie viel Geld wir tatsächlich zur Verfügung hatten, wurde Produkt um Produkt vor den ungeduldigen Augen der Menschen in der Schlange vom sichtlich genervten Vorgesetzten mit dem Stornoschlüssel ausgebucht, bis die Kartenzahlung endlich klappte.
In diesen Momenten habe ich gemerkt, dass meine Familie etwas anders ist als andere.
“Mit dem Fall der Mauer begann für uns eine Abwärtsspirale”
Ich wurde Mitte der Achtzigerjahre in Ostberlin geboren. Meine Mutter war gelernte Industrieschneiderin und ich weiß aus Erzählungen, dass sie trotz der vielen Arbeit immer versuchte, Zeit mit mir zu verbringen. So hat sie nach meiner Geburt einen gut bezahlten Job in einem Stoffladen aufgegeben, um als Schneiderin in meinem Kindergarten zu arbeiten. Mein Vater war Mechaniker und hat in einem der großen Ost-Berliner Kabelwerke gearbeitet.
Auf alten Fotos sehe ich eine sehr glückliche kleine Familie. Meine Mutter und mein Vater lehnen am Kofferraum eines Autos, beide sichtlich verliebt. Andere Fotos zeigen uns alle zu Ostern mit der Großmutter auf der Datsche oder bei Ausflügen aufs Land. Dieses schöne Familienleben kenne ich aber nur von den Fotos und aus Erzählungen. Erst die Trennung meiner Eltern Ende der Achtzigerjahre und der Fall der Mauer hat den Teil meiner Kindheit eingeleitet, an den ich mich aktiv erinnere.
Mit der Wiedervereinigung begann für meine Mutter eine berufliche Abwärtsspirale. Sie war zur Zeit des Mauerfalls Ende 20, gut qualifiziert. Jetzt hätte sie die Früchte ihrer Ausbildung ernten können. Aber ziemlich abrupt war diese Qualifizierung nichts mehr wert. Ich weiß noch, dass sie Umschulungen im kaufmännischen Bereich machte. Das Wort ABM-Stelle für Arbeitsbeschaffungsmaßnahme fiel häufig.
Irgendwann fand sie dann in einer kleinen Firma eine Halbtagsstelle als Raumpflegerin. Nebenbei ist sie meiner Erinnerung nach immer mindestens zwei weiteren Jobs nachgegangen, damit genug Geld ins Haus kam. An den Wochenenden nähte sie häufig, wenn sie nicht arbeiten musste. Mir war klar, dass es das war, was sie eigentlich gern machen wollte.
“Um meine Bildung musste ich mich früh selbst kümmern”
Da meine Mutter häufig sehr erschöpft war, musste ich schon früh viel Verantwortung für mich und meine jüngere Schwester übernehmen. Dafür sorgen, dass die Hausaufgaben gemacht wurden, die Wohnung aufgeräumt wurde und vieles andere.
Auch um meine Bildung musste ich mich schon ziemlich früh selbst kümmern. Meine Mutter half mir noch ungefähr bis zur dritten Klasse bei den Hausaufgaben. Danach war ich auf mich allein gestellt. Ich wusste, dass ich in der Schule zu 100 Prozent aufmerksam sein muss, weil ich nur das lernen würde, was ich in dem Moment verstehen und aufnehmen konnte. Zuhause war kein Lernort.
Über die Jahre wurde mir die Schule immer wichtiger, weil ich merkte, dass ich hier wachsen konnte – und gleichzeitig verfestigte sich mein Gefühl, anders zu sein – obwohl meine Mutter natürlich versuchte, den Eindruck aufrechtzuerhalten, dass wir wie alle anderen, ganz normal, waren.
Das merkte ich in ganz banalen Situationen, wie bei Aufgaben im Deutschunterricht: “Schreibt die Berufe eurer Eltern auf und welche Tätigkeiten wichtig sind!” oder daran, dass ich der einzige war, der nach dem Schwimmunterricht kein Taschengeld für Gummibärchen dabei hatte. Bei meinen Mitschüler*innen war der Sturm auf den Kiosk ein Ritual, an dem ich nicht teilhaben konnte. Ich verstand das.
Meine Mutter musste mich schon früh allein lassen, wenn ich mit einer Erkältung im Bett lag. Sie hatte Angst, dass Fehltage bei der Arbeit oder das Absagen von Jobs dazu führen könnten, dass sie diese verliert.
Weil wir Wohngeld bezogen, musste sich meine Mutter regelmäßig beim Arbeitsamt melden, Kopien ihrer Kontoauszüge der letzten Monate einreichen und sich gefühlt für jede Lebens- und Konsumentscheidung rechtfertigen – immer verbunden mit der Angst, dass die Behörde diese für nicht angemessen bewertet und die finanziellen Hilfen kürzen könnte.
Gleichzeitig forderte der Staat von ihr fast schon einen unternehmerischen Umgang mit einem Einkommen, das nicht ausreichte, um Rücklagen zu bilden. Im Gegenteil: Wer heute Hartz IV bezieht, muss bestehende Rücklagen sogar aufbrauchen. Auch das Guthaben von Sparbüchern für Kinder und die Ersparnisse für das Alter.
“Den Menschen wird vermittelt, dass sie leicht ersetzbar sind”
Die Angst vor der Arbeitslosigkeit betrifft viele Menschen in Deutschland – und ihre Kinder spüren das. Vor allem die Menschen, die fachlich wenig qualifiziert sind oder deren Ausbildung aus dem Ausland nicht anerkannt wird, haben Angst vor dem Jobverlust: Ihnen wird vermittelt, dass sie leicht ersetzbar sind.
Gleichzeitig sind gerade diese Menschen häufig finanziell besonders abhängig von ihren Jobs. Aus der Abhängigkeit heraus machen sie Zugeständnisse, die sie nicht machen würden, wenn sie eine Wahl hätten. Sogar sexistische und rassistische Kommentare und Übergriffe werden in der Not hingenommen.
Natürlich sind Arbeitnehmer*innen per Gesetz geschützt. Aber um dieses Recht für sich einfordern zu können, braucht es finanzielle Ressourcen, Zeit und den Mut, sich gegen seine*n Arbeitgeber*in zu stellen. In einem stark einseitigen Abhängigkeitsverhältnis passt man sich eher an. Meine Mutter war da keine Ausnahme.
Ich erinnere mich an eine Situation, in der mich eine Erzieherin aus dem Schulhort mit nach Hause nahm, weil meine Mutter mich nicht pünktlich abholen konnte. Meiner Mutter muss das unglaublich unangenehm gewesen sein. Gleichzeitig waren die Neunzigerjahre eine Zeit, in der nicht wenige Menschen durch die Brüche in ihren Arbeitsbiografien auf die Hilfe der Gemeinschaft angewiesen waren. Unter Menschen, die in der DDR sozialisiert waren, war es gang und gäbe, solche Momente der individuellen Not mitzutragen.
“Meine Mutter kam an ihre Grenzen, wir sprachen zuhause wenig miteinander”
Wenn ich bei Schulfreund*innen zuhause war, wunderte ich mich sehr häufig, dass sie im Februar oder März noch Weihnachtsschokolade in ihren Schubladen hatten. Süßigkeiten waren Luxus bei mir zuhause, also war der “bunte Teller” spätestens am zweiten Weihnachtsfeiertag leer. Das Mangelgefühl sorgte dafür, dass ich mich auf die Süßigkeiten stürzte. Wäre genug da gewesen, hätte ich anders damit haushalten können. Süßigkeiten in den Schubladen anderer waren damals für mich ein Zeichen dafür, dass sie genug Geld hatten.
Ein anderes Zeichen war ein wertschätzender Umgang miteinander. Ich habe mich in der Schule und bei meinen Freund*innen immer sehr wohlgefühlt. Zuhause kam meine Mutter immer stärker an ihre Grenzen. Zwei Kinder, wechselnde Jobs unter ihrer Qualifikation, die fehlende Planbarkeit und weder Zeit noch Geld, sich weiterzubilden. Wir sprachen zuhause wenig miteinander.
In Familien, die von Armut betroffen sind, kann die Mehrfachbelastung der Eltern im schlimmsten Fall zu häuslicher Gewalt führen. Wenn Alkoholismus hinzu kommt, wächst diese Gefahr enorm. Für die betroffenen Kinder und Jugendlichen ist der Weg aus dieser Situation extrem schwer und gelingt selten ohne Hilfe von außen. Dennoch wird dieses Thema nach wie vor tabuisiert – übrigens auch von vielen Betroffenen: “Die Angst vor gesellschaftlicher Verurteilung ist noch immer da und dafür verantwortlich sind wir, die Gesellschaft”, schreibt Selina Hellfritsch in einem lesenswerten Artikel über die Chancengleichheit für Kinder aus Hartz IV-Haushalten.
“Das Gymnasium war die Schule für die Kinder, die alles hatten”
Ich habe am Ende der Grundschule eine “Gymnasialempfehlung” bekommen. Das war damals ein ziemlicher Schock für mich. Ich konnte mich gar nicht richtig freuen, weil das Gymnasium doch der Schultyp für die Kinder war, die beide Elternteile hatten, bei denen es zuhause Bücher gab, die ein Instrument lernten – und bei denen sich hinter Sätzen wie “meine Eltern sagen, wir haben das Geld dafür gerade nicht” eine freiwillige Entscheidung gegen den Konsum verbarg und nicht ein ausgereizter Dispositionskredit.
In unserer neuen SerieDas Themabeleuchten wir diesmalDie soziale Spaltung. Wie sehr bestimmen Armut oder Reichtum unser Leben – und können wir diese Spaltung irgendwie überwinden? Diskutiere mit undabonniere unseren Newsletter, um nichts zu verpassen.
Glücklicherweise gab es bei uns auch eine Gesamtschule. Ich erkundigte mich über diese Schulform und bat meine Mutter, mich auf dieser Schule anzumelden. So bekam ich bis zur 10. Klasse Zeit herauszufinden, ob ich den Schulstoff ohne Hilfe bewältigen konnte. Denn Nachhilfeunterricht war für uns unbezahlbar und daher undenkbar. Die vielen Angebote der Ganztagsschule nahm ich gerne in Anspruch. Schule wurde zu dem Ort, an dem ich lernen und wachsen konnte.
In der Gesamtschule wurde mir noch stärker bewusst, was sozialer Unterschied bedeutet. Die Zeit der Selbstdefinition über Markenklamotten, Geschichten von Familienurlauben in der Sonne und Klassenfahrten mit absurd hohem Taschengeld begann. Rückblickend habe ich in dieser Zeit gelernt, wie wichtig engagierte Lehrer*innen sind, um ungleiche Bildungschancen zu nivellieren – und wie schwer und wie undankbar diese Aufgabe ist.
“Lust auf ein Leben, das mich anders fordert als das Überleben im Berliner Außenbezirk”
Mein Lieblingsfach ab der 7. Klasse war Französisch und ich wurde ziemlich schnell sehr gut darin. Hier fand ich meine Nische, in der nur wenige Klassenkamerad*innen durch ihr Elternhaus Hilfe hatten. Gleichzeitig gab diese Sprache ausgerechnet mir, der ich zwischen Klassenclown und introvertiertem Tagträumer pendelte, eine Gedankenwelt, in die ich mich flüchten und eine Zukunft projizieren konnte.
Meine Neugier und mein Engagement wurde vom Kollegium der Französischlehrerinnen bemerkt und gefördert. Einige meiner Freund*innen machten ein Auslandsjahr in den USA. Das hätte ich mir für Frankreich gewünscht – aber das waren Summen, die für mich undenkbar waren. Immerhin durfte ich aber an finanziell geförderten Austauschprogrammen teilnehmen.
Der Wunsch in mir, in “meinem Fach” besser zu werden, meiner intellektuellen Leidenschaft zu folgen, wuchs. Gleichzeitig hatte ich Lust zu erleben, wie sich ein selbstbestimmtes Leben anfühlen könnte. Eines, das mich auf andere Art und Weise herausfordert als “nur” mit dem Überleben im Ostberliner Außenbezirk, der mir eh nicht besonders viel Halt gab.
Mit 17 Jahren fasste ich den Entschluss, die Schule abzubrechen und nach Paris zu ziehen. Ich kaufte mir ohne viel Planung ein One-Way-Ticket für einen Sitzplatz im Nachtzug. Hätte ich das damals nicht getan, wäre vieles in meinem Leben anders gelaufen...
Stevens Reise geht weiter: Im zweiten Teil seiner Biografie teilt er seine Erinnerungen an ausbleibenden Unterhalt, erste Kredite mit 18 und vom Arbeiten gehen vor und nach der Schule.