"Leistung muss sich lohnen", sagen Politiker*innen. Mareice Kaiser fragt zurück: Welche Leistung? Und für wen? Ein Plädoyer für eine Gesellschaft, die Sorgearbeit endlich als das anerkennt, was sie ist – Gold wert.
Es ist immer wieder zu hören, vor allem von Politiker*innen: Leistung muss sich lohnen! Manchmal auch: Leistung muss sich wieder lohnen. Und jetzt kommt's: Ich finde auch, dass Leistung sich lohnen sollte.
Keine Sorge, diese Kolumne schreibt nicht Christian Lindner, sondern wirklich ich. Ich würde es wirklich gut finden, wenn Leistung sich lohnen würde. Das Problem ist vor allem die Definition von Leistung. Die Politiker*innen, die diese Sätze sagen, haben nämlich einen sehr beschränkten Leistungsbegriff.
Foto: Fabian Melber
Wer spricht hier?
Mareice Kaiser ist Bestseller-Autorin und Journalistin. Als Arbeiterkind ohne Studium ist sie die Ausnahme in einem Beruf, in dem die allermeisten einen Uni-Abschluss haben. Mareice kämpft für eine Gesellschaft, in der wir nicht auf Glück angewiesen sind, um ein gutes, würdevolles Leben zu führen. Ihr aktuelles Buch "Wie viel" erzählt entlang acht persönlicher Porträts, wie Geld unser Leben bestimmt – und wie ungerecht es verteilt ist.
Wir leben in einer sogenannten Leistungsgesellschaft. In dieser Gesellschaft denken die meisten Leute: Wenn ich mich anstrenge, kann ich es schaffen. Dann werde ich reich und erfolgreich sein: Ein Auto, ein Haus, ein Leben ohne finanzielle Sorgen. Problem an der Geschichte: Sie ist nicht wahr. Sie war mal wahr, einen kurzen Moment. In der Generation meiner Eltern, da war das möglich.
Heute ist sie eine Lüge. Das wissen alle, die sich jeden Tag anstrengen. Das wissen alle Arbeiter*innen, die ihre Körper und ihre Psyche kaputt arbeiten und am Ende des Monats reicht es doch nicht mehr für den Einkauf für die Familie. Das wissen alle, die erwerbsarbeiten und trotzdem Sozialleistungen beziehen müssen. Das wissen alle, die Vollzeit pflegen, sich niemals einen Urlaub leisten können und über eine sichere Rente nur müde lächeln können. Wenn sie noch lächeln können.
Und jetzt mal ehrlich: Wer sind eigentlich die sogenannten Leistungsträger*innen unserer Gesellschaft? Wenn Christian Lindner von Leistung spricht und Leistungsträger*innen entlasten will, um ihre "Leistung" angemessen zu würdigen, dann denkt er an Leute, die in Großkonzernen ganz oben sitzen. Aber ist das wirklich die Leistung, ohne die unsere Gesellschaft nicht funktionieren würde?
Welche Floskeln zum Thema soziale (Un-) Gerechtigkeit wir noch kennen:
Über Leistung wird immer nur in Zusammenhang mit Wirtschaft gesprochen.
Was dabei fast immer vergessen wird: Ohne Care gäbe es überhaupt keine Wirtschaft. Und Care- beziehungsweise Sorgearbeit ist eine Leistung, die selten in Wirtschaftsstatistiken vorkommt. Dabei wären das die wichtigen Zahlen: In einem Jahr haben wir ein Care-Volumen von 117 Milliarden Stunden. Zum Vergleich: Das Arbeitsvolumen, also die Stunden bezahlter Erwerbsarbeit sind 60,6 Milliarden Stunden. Das ist fast die Hälfte.
So, und jetzt stellt euch mal vor, Leistung würde sich wirklich lohnen. Würde Care-Arbeit bezahlt werden, bräuchte es dafür über eine Billion Euro. Das sind so viele Nullen:
Genau genommen 1,2 Billionen Euro. Nur die Kinderbetreuung und Pflege, die von Frauen geleistet wird, wäre allein 826 Milliarden Euro wert. Wenn Leistung sich lohnen würde, würde das allen Care-Arbeitenden zustehen. Wenn Leistung sich lohnen würde, wäre Sorgearbeit keine Armutsfalle. Wenn Leistung sich lohnen würde, hätten Alleinerziehende keine Existenzängste mehr.
Sind der Regierungspartei das "C" wie christlich und das "S" wie sozial abhanden gekommen?
Und genau deswegen hat Christian Lindner ja doch recht: Leistung muss sich lohnen! Aber wir sollten endlich gesamtgesellschaftlich darüber sprechen, was Leistung wirklich bedeutet. Nicht Vorstandsetage und Zahlenschubserei in Großkonzernen, sondern Sorgearbeit und gesellschaftliche Verantwortung.
Wir müssen über Vermögensverteilung, gerechte Löhne und soziale Absicherung reden – und uns nicht weiter von dem Märchen ablenken lassen, dass es nur an der eigenen Anstrengung liegt. Und übrigens – weil ja hier ich schreibe und nicht Christian Lindner – noch ein hot take zum Schluss:
Ich finde, auch keine Leistung muss sich lohnen. Die meisten Menschen, die ich kenne, arbeiten viel. Zu viel. Ich wünsche uns allen mehr Ruhe. Mehr Zeit zum Rumliegen, zum Nichtstun, zum Faulsein. Wir sollten auch ein gutes Leben haben, wenn wir mal faul sind. Das gilt von mir aus sogar für Christian Lindner.
Mareice hat noch mehr zu sagen
Einmal im Monat teilt Mareice Kaiser in einem Gastkommentar ihre Sicht auf aktuelle politische Debatten mit uns. Alle Folgen findest du hier: